Ein, wenn nicht der wesentliche Baustein ökonomischer Modelle ist der homo oeconomicus. In der Realität gibt es ihn nicht. Er ist eine Annahme. Trotzdem entzünden sich an ihm oft aufgeregte Diskussionen und wie kaum ein anderes Lebewesen wurde und wird er von der Wissenschaft untersucht. Man kann ihn sich als einen Menschen vorstellen, der eigentlich ganz gesund ist, aber im Rahmen der Gesundheitsvorsorge regelmäßig verschiedene Fachärzte konsultiert. Am besten fühlt er sich, wenn er die Praxis des Ökonomen verlässt. Soziologen, Ökologen und Mediziner diagnostizieren ihm aber die verschiedensten Krankheiten.
Wie intensiv die Auseinandersetzung um die homo oeconomicus-Annahme geführt wird, kann man erkennen, wenn man im Internet nach "homo oeconomicus" googelt. Die Diskussion ist durchaus interessant und spannend, aber auch wer den Argumenten der Feinde der homines oeconomici mehr vertraut, hat als Ökonom zunächst keine Wahl: er muss sich mit dem homo oeconomicus vertraut machen, denn die ganz überwiegende Mehrzahl der ökonomischen Theorien baut mehr oder weniger auf diesem Bild auf. Selbst moderne evolutorische, experimentelle und spieltheoretische Konzepte, die weniger auf den homo oeconomicus rekurrieren, setzen in aller Regel voraus, dass man mit dem homo oeconomicus vertraut ist.
Der homo oeconomicus lässt sich am einfachsten durch die Art und Weise beschreiben, wie er Entscheidungen trifft. Nämlich rational im eigenen Interesse. Und damit ist schon fast alles Wichtige gesagt.
Den Begriff "rational" kann man ersetzen durch vernunftbetont, wohlüberlegt oder wirtschaftlich.
Der homo oeconomicus trifft Entscheidungen immer so, dass er im Hinblick auf sein persönliches Wohlergehen Nutzen und Kosten abwägt und sich für die Alternative entscheidet, die den höchsten Nettonutzen erwarten lässt.
Wir wollen ein paar Beispiele betrachten, in denen der homo oeconomicus als Autofahrer, Politiker und Konsument auftritt:
Beispiel 1: Der homo oeconomicus auf der AutobahnH.O. ist aus Richtung Norden kommend auf der A7 nach Frankfurt zu einem Vorstellungsgespräch in einem großen deutschen Kreditinstitut unterwegs. Die Zeit ist knapp und ohne Missachtung der Geschwindigkeitsbegrenzungen wird H.O. nicht pünktlich sein. Wir können ohne weitere Informationen nicht sagen, wie viel schneller H.O. fahren wird. Denn das hängt von vielen Einflussfaktoren ab, die er jetzt gegeneinander aufrechnen wird: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich den Job bekomme, wenn ich pünktlich bin? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich geblitzt werde? Kann ich mir noch weitere Punkte in Flensburg leisten? Wie sicher ist mein Auto bei einem Unfall? So schießen ihm viele Gedanken durch den Kopf und sein Gehirn arbeitet auf Überlast.
Nehmen wir an, er entscheidet sich wegen der guten Aussichten auf den hoch dotierten Job, seinen Wagen bis an die Grenzen auszufahren. Würden wir nicht doch erwarten, dass er z. B. an der Werratal-Brücke die Geschwindigkeit reduziert, da er von der fest installierten Radarfalle weiß? Die homo oeconomicus-Erklärung ist, dass im Bereich der Radarfalle die erwarteten Kosten der Geschwindigkeitsübertretung zunehmen.
Politiker H.O. sitzt im Bauausschuss. Der ihm freundschaftlich verbundene Bauunternehmer B. verspricht ihm, den Preis für seine neue Garage noch einmal mit spitzer Feder durchzurechnen, wenn eine Entscheidung im Interesse des Bauunternehmens ausfällt. Orientiert sich H.O. bei der Abstimmung am Gemeinwohl oder an seinem eigenen Portemonnaie?
Konsument H.O. hat sich für den DVD-Player XYZ entschieden und im Internet Preise verglichen. Die Anbieter unterscheiden sich in Zahlungs- und Lieferbedingungen nur marginal.
Würde es uns nicht wundern, wenn H.O. bei gleichen Leistungen nicht dort kauft, wo die Kosten am geringsten sind?
Ökonomen denken über diese Beispiele nach, indem sie überlegen, was jeweils ein Entscheidungsträger tun würde, der wohlüberlegt seine persönlichen Kosten und seinen persönlichen Nutzen der Alternativen gegeneinander aufwiegt.
Im Umkehrschluss legt das homo oeconomicus-Modell nahe, welche Maßnahmen man treffen muss, wenn man die Entscheidungen der Menschen beeinflussen möchte. Man muss an ihren persönlichen Kosten und/oder Erträgen ansetzen, d. h. man muss sie bestrafen oder belohnen. Wer wollte denn leugnen, dass man
- Schüler zu besseren Leistungen anspornen kann, wenn man ihnen für gute Noten Präsente in Aussicht stellt,
- Kinder zu Gehorsam zwingt, indem man ihnen für den gegenteiligen Fall Fernsehverbot androht,
- Arbeitskräfte durch Akkordprämien zu höheren Leistungen anspornt,
- Autofahrer mit Knöllchen vom Falschparken abhält,
- Arbeitslose durch Leistungskürzungen zur Arbeitsaufnahme bewegt,
- Anleger durch höhere Steuern ins Ausland vertreibt oder
- privat Krankenversicherte durch Rückerstattungen zu kostenbewusstem Verhalten anhält?
Vieles, was wir tun oder lassen, wirkt sich nicht nur auf unsere persönlichen Kosten und Nutzen, sondern auch auf die Kosten und Nutzen von anderen aus. In einem Teil der Fälle ist das ganz unproblematisch. Wenn Sie z. B. Brötchen kaufen, wird das Ihnen selbst wie dem Bäcker einen Nettovorteil verschaffen. Sie würden sie sonst nicht kaufen und der Bäcker sie Ihnen nicht verkaufen wollen. Feine Sache - obwohl jeder der Beteiligten im eigenen Interesse handelt, springt für alle Beteiligten ein Vorteil heraus. So simpel dieses Beispiel ist, macht es dennoch sehr deutlich, dass eine weit verbreitete Vermutung vieler Nichtökonomen nicht zutrifft: Der Gewinn des einen sei notwendig ein Verlust des anderen.
Mitunter bestehen zwischen den Beteiligten aber gar keine direkten Beziehungen in Form von Leistungen (Brötchen) und damit verbundenen Gegenleistungen (Geld). Wenn mich mein Nachbar z. B. mit seinem ständigen Rasenmähen terrorisiert, dann mag für ihn der gepflegte Rasen einen Gewinn darstellen. Mir fügt er damit aber ein Leid zu, für das er mich nicht entschädigt. Der - in diesem Fall negativen - Leistung (Lärm) steht also keine Gegenleistung gegenüber (Entschädigungszahlung).
Wenn die Entscheidungen nicht nur private Kosten und private Erträge nach sich ziehen, sondern auch bei anderen Wirtschaftssubjekten, zu denen keine Marktbeziehung besteht, Kosten oder Erträge anfallen, spricht man von "externen Effekten". Wer z. B. seinen Hund auf den Gehweg ... na, Sie wissen schon ... verursacht einen negativen externen Effekt, da der Gesellschaft Kosten entstehen.
Denken Sie doch einmal darüber nach, welche Ihrer Konsumaktivitäten gesellschaftliche Kosten verursachen. Würden Sie sie deswegen einschränken wollen? Würden Sie es begrüßen, wenn andere Konsumenten diese Aktivitäten einschränken würden?
Das gilt natürlich ebenso, wenn Menschen Auto fahren. Der entstehende Schaden ist nur nicht mehr ganz so offensichtlich und einzelnen Individuen schwer zuzurechnen. Die Autofahrer - mehr homo oeconomicus als homo oecologicus - kalkulieren die Umweltschäden und Unfallfolgen, die Dritten entstehen, nicht in ihre Entscheidungen ein. Weil sie diese Kosten nicht berücksichtigen (sofern sie nicht indirekt über die Mineralölsteuer dazu gebracht werden), wird aus gesellschaftlicher Perspektive tendenziell zu viel Auto gefahren. Deswegen kann man nun aber nicht sagen, dass die homo oeconomicus-Annahme der ökonomischen Theorie unvernünftig sei. Die Theorie behauptet nicht, dass der homo oeconomicus ein "guter Mensch" sei und stellt ihn nicht als Ideal oder Leitbild dar. Sie untersucht vielmehr, welche Konsequenzen eintreten, wenn die Menschen sich so wie homines oeconomici verhalten. Wenn man so will, geht die Theorie damit von einem eher "negativen" Menschenbild aus, von opportunistisch agierenden Egoisten. Würde man bessere Ergebnisse mit der Annahme erwarten können, die Menschen zeichneten sich in erster Linie durch Nächstenliebe aus? Wohl kaum.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Ergebnis einer Bundestagswahl durch eine einzelne Stimme ändert?
Richtig. Sie geht gegen null. Also hat der einzelne Wähler keinen Nutzen durch die Wahl. Wohl aber entstehen ihm Kosten. Vor allem, wenn es am Wahltag regnet.
Da die Kosten den Nutzen auf jeden Fall übersteigen, wird er nicht wählen.
Ist das rational?
Eine ernst zu nehmende Kritik der homo oeconomicus-Annahme zielt auf die unzureichende Möglichkeit ihrer Falsifizierung. Springt ein Mensch in den Tod, liefert der Ökonom trocken die Erklärung, die erwarteten Kosten des Weiterlebens seien wohl höher gewesen als der erwartete Nutzen. Auf diese Art und Weise könnte man aber alle Entscheidungen erklären, seien sie noch so verrückt.
Aus diesem Grund wird versucht, Entscheidungen durch veränderte Rahmenbedingungen oder Parameteränderungen zu erklären. So gibt z. B. eine beobachtete Preissteigerung von Bier eine viel bessere Erklärung für einen Rückgang der Biernachfrage ab als die Vermutung, die Menschen würden plötzlich kein Bier mehr mögen. Änderungen im Verhalten durch Änderungen der Präferenzen zu erklären, gilt als verpönt.
Dem homo oeconomicus wird mitunter zugeschrieben, er besitze die Fähigkeit zu uneingeschränkt rationalem Verhalten und verfüge über vollständige Information. Das sind jedoch keine Charakteristiken des homo oeconomicus, sondern es handelt sich dabei um zusätzliche Annahmen, die den Modellen zuzurechnen sind. Diese Annahmen sollen die Modelle vereinfachen und so zu einem leichteren Verständnis beitragen. Selbstverständlich können die homines oeconomici auch Modellwelten bevölkern, in denen unvollständige Information herrscht. Auch hier sind rationale Entscheidungen möglich. Wir sind uns ja sicherlich einig, dass es vernünftig gewesen sein kann, einen Regenschirm mitzunehmen, selbst wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es gar nicht geregnet hat. Ohne dass wir vollständige Informationen besaßen, konnten wir trotz unserer beschränkten Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung eine rationale Entscheidung treffen.
"Der homo oeconomicus verfolgt nur materielle Ziele. Nichtmaterielle Ziele sind ihm fremd."
"Rational" und "egoistisch" bedeuten im Kern dasselbe.
Die Präferenzen des homo oeconomicus, d. h. seine Einstellungen und Wünsche, werden in der ökonomischen Theorie nicht diskutiert. Sie gehen als Daten in die Modelle ein. Die Konsequenz ist ein hohes Maß an Liberalität in dem Sinn, dass jeder für sich selbst weiß, was für ihn das Beste ist. Warum sollte man in die Entscheidungen vernünftig handelnder Individuen auch eingreifen wollen?